Vom Push zum Peak 010: Dr. Carl-Ernst Oberhaupt hat geplant einen ruhigen Silvesterabend bei sich Zuhause zu verbringen. Doch da kommt überraschend sein Studienfreund Emil Winterbier vorbei. Ihm gegenüber kann Dr. Oberhaupt sich selbst das erste mal seine Unzufriedenheit eingestehen. Doch das Gespräch nimmt eine überraschende Wendung, als Winterbier anfängt ihn nach dem WARUM seiner Arbeit zu befragen.
Ein alter Freund
Es ist Silvesterabend. Carl-Ernst Oberhaupt ist auf dem Sofa eingenickt, als ihn das Klingeln seines Telefons aus dem Schlummer weckt. Auf dem Display steht eine unbekannte Nummer, doch er nimmt das Telefongespräch an: „Mensch Kalle, ich komm´ zufällig gleich bei deiner Butze vorbei, wenn du Zeit hast, dann bieg’ ich von der Autobahn ab, und wir gehen einen trinken, was hältst du davon?“ Oberhaupt ist überrascht, seinen alten Studienfreund Emil Winterbier am Telefon zu hören. Diesen Anruf hat er nun wirklich nicht erwartet. „Klar Emil, komm vorbei“, sagt er. “Ich habe auch noch einen richtig feinen Rotwein im Keller liegen. Und weil du´s bist, würde ich ihn direkt rauf holen“, grinst er freundschaftlich. „Alles klar, ich bring Pizza mit!“ ruft Emil aus dem Telefon.
Oberhaupt geht in die Küche und kocht sich einen kräftigen Kaffee. Währenddessen versucht sich zu erinnern, wann er Emil das letzte Mal gesehen hat. Es muss mindestens fünf Jahre her sein, dass die beiden zusammen saßen. „Eigentlich ist es schade, dass einen der Alltag so auffrisst.“, denkt er. „Wir haben während des Studiums nächtelang miteinander diskutiert, und heute fällt es mir sogar schwer, mich an die Namen seiner Kinder zu erinnern. – Ich bin gespannt, wie es ihm heute geht.“
Ich weiß nicht mehr warum ich das alles machen soll?
Zwei Stunden später sitzen die beiden Studienfreunde bei einer Flasche französischem Rotwein am Küchentisch von Carl Ernst Oberhaupt. „Wie geht es Dir denn so?“, fragt Winterbier freundschaftlich und nickt ihm aufmunternd zu. „Ach weißt Du, eigentlich habe ich kein Grund zum Klagen“, sagt Oberhaupt. „Aber es macht mir einfach keinen Spaß mehr“. „Was genau meinst Du?“, fragt Emil und runzelt die Stirn. „Na, du weißt schon, Business und so…“, sagt der Angesprochene. „Ich bin Chef von einer soliden Firma, die Mitarbeiter sind O.K., ich habe ein ausreichendes Einkommen und einen neuen Firmenwagen fürs Frühjahr bestellt. Meine Tochter studiert in Sydney. Mein Sohn Jonathan nennt sich neuerdings Jon und bereitet sich auf seinen Abschluss in Harvard vor. Alles ist irgendwie geregelt — aber ich weiß nicht mehr, warum ich das alles machen soll? Jeden Tag quäle ich mich aus dem Bett, dabei würde ich am liebsten liegenbleiben. Ich habe alles erreicht, was ich mir früher gewünscht habe, aber gleichzeitig gibt mir diese Leben einfach keinen Sinn mehr“.
Er greift zu seinem Glas und nimmt einen kräftigen Schluck. Insgeheim ist er über sich selbst erschrocken. So klar hat er seine eigene Unzufriedenheit noch nie formuliert. Richtig ist, dass er schon seit Wochen unzufrieden und missmutig in die Firma gefahren ist, aber erst sein Freund Emil hat ihn dazu gebracht, seine Gedanken so klar auf den Punkt zu bringen.
Und was macht die Firma?
Der Freund legt ihm tröstend die Hand auf den Arm. „Erzähl doch mal, was machst du denn so den ganzen Tag?“, „Naja, ich bin Geschäftsführer, das weißt du doch! In meiner Firma arbeiten 147 Mitarbeiter und ich sorge dafür, dass der Laden am Laufen bleibt!“, „Und?“ ‚fragt Emil weiter. „Wir machen Blechbearbeitung in Auftragsfertigung“, sagt Oberhaupt. „Unsere Kunden sind Unternehmen aus der Automobilindustrie, der Prozesstechnik und der Elektronikbranche“, und er blickt seinen Freund an, damit ihn dieser weiter nach den Qualitäten der Firma fragen kann.
Dieser lehnt sich jedoch zurück und sagt: „Ich weiß doch was ihr macht. Eigentlich interessiert mich auch gar nicht WAS die Firma macht, sondern WARUM sie es macht?“. Oberhaupt sieht ihn fragend an: „Was meinst du? Wir sind Zulieferer für die Autoindustrie und liefern Karosseriebauteile und Halter für Kabelbäume…“. Emil Winterbier setzt nach. „Aber warum macht die Firma solche Bauteile?“, „Na, weil wir dafür Aufträge bekommen, und die Mitarbeiter Arbeit haben, und weil es Geld dafür gibt und…“, Oberhaupt fuchtelt mit den Händen und redet sich in Rage.
Warum bist Du Chef einer Firma?
Emil setzt davon unbeeindruckt nach: „Was macht deine Firma anders als andere Firmen? Zulieferer gibt es doch Hunderte“. Oberhaupt stutzt. Wie soll er auf so eine blöde Frage antworten? Und tatsächlich fällt ihm dazu auch keine plausible Antwort ein. Er greift zur Weinflasche, um die beiden Gläser wieder aufzufüllen. „Warum bist Du Chef einer Firma, die Autozulieferteile fertigt?“, fragt Winterbier gnadenlos weiter. Oberhaupt zuckt mit den Schultern, über diese Frage hatte er bislang noch nicht wirklich nachgedacht. Sein Freund versucht ihm weiterzuhelfen. „Es ist großartig, dass du ein Unternehmen führst“, sagt er: „Deine Mitarbeiter können sich auf dich verlassen, und Du setzt dich mit aller Kraft für sie ein, so habe ich dich verstanden. Aber WARUM machst Du Blechteile?“
Warum machst Du Blechteile?
Oberhaupt sieht seinen Freund verwirrt an. Was will Emil eigentlich von ihm? „Darüber habe ich mir noch nie wirklich Gedanken gemacht,“ gibt er kleinlaut zu. „Doch wenn ich es rückblickend betrachte, dann hat mich die Umformung von Metall schon immer interessiert. Blech ist ein fantastischer Werkstoff, mit dem man tausend Dinge fertigen kann. Es ist eine Frage der Intelligenz, wie raffiniert die Bauteile sind, wie man kostenoptimiert konstruiert, oder wie viel Gewicht man sparen kann, wenn man sorgfältig genug arbeitet. Du weißt doch, es hat mir schon im Maschinenbaustudium Spaß gemacht, Details zu tüfteln und intelligente Konstruktionen für schwierige Bauteile zu entwickeln“.
Warum führst Du eine Firma?
Winterbier stimmt ihm zu: „Durch die Arbeit mit Blech neue Produkte zu entwickeln, die leichter, billiger oder haltbarer sind, ist tatsächlich eine tolle Aufgabe, die zu Dir passt“, nickt er ihm zu, „und Du hast damals schon nächtelang getüftelt, um perfekte Lösungen für die vom Professor gestellten Aufgaben zu lösen. Ich habe dich immer um diese Gabe beneidet. Deine Geduld hatte ich nie.“. Winterbier grinst und hebt sein Rotweinglas, um dem Freund zuzuprosten. „Aber es muss noch mehr geben als die Begeisterung für Konstruktion, weshalb Du eine Firma führst. Du könntest ja auch als selbständiger Konstrukteur arbeiten, und dich alleine auf die Entwicklung von Bauteilen konzentrieren – hast Du aber nicht“. Und er nimmt einen zweiten Schluck aus seinem Glas. „Was ist es, was dich motiviert, eine Firma zu führen?“, Und er stellt das Glas wieder auf den Tisch.
Technik verändert das WARUM wir etwas tun
Oberhaupt wird still. Die Frage hat er sich noch nie gestellt und in seinem Kopf arbeitet es. Es dauert lange, bis er antwortet. Winterbier beobachtet ihn und stellt fest, dass sich der Gesichtsausdruck seines Freundes verändert. Dann antwortet dieser mit ruhiger Stimme: „Ich denke, dass Technik etwas genial Menschliches ist. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Technik entwickelt, um seine Lebenswelt zu verändern. Ohne Technik würden wir heute noch in Erdlöchern oder auf Bäumen wohnen. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass Gesellschaften Technik hervorbringen, das heißt Technik ein Produkt von Gesellschaften ist. Dabei ist es gerade umgekehrt. Gesellschaften sind ein Ergebnis der Technik, die ihnen zur Verfügung steht. Technik verändert nicht, WAS oder WIE wir etwas tun, sondern WARUM wir etwas tun.“
Warum entstehen neue Geschäftsmodelle durch das Internet?
„Halt mal, Deinen Satz verstehe ich nicht so schnell,“ fällt Winterbier ihm ins Wort. „Kannst du noch mal genauer sagen, was du meinst?“, „Ist doch einfach“, sagt Oberhaupt. „Warum fahren wir mit Autos? – Weil es Autos gibt. Warum arbeiten die Menschen am Computer? – Weil es Computer gibt. Warum machen wir uns Gedanken über Erneuerbare Energien? – Weil es technische Lösungen zu diesem Thema gibt, die es vor wenigen Jahren noch nicht gab. Warum kommunizieren wir über das Internet? – Weil es die Technologie dafür gibt und jeder Mensch heute in der Lage ist, an dieser Kommunikation teil zu nehmen. Der Umgang mit Technik verändert das Leben, die Erfahrungen und die Wahrnehmung der Menschen – und demnach auch deren Glaubenssätze und Werte“.
„Du meinst also, dass erst die Entwicklung neuer Produkte zu neuen Gedanken führt?“, hakt Emil nach, „Weil sich durch den Umgang mit technologischen Neuerungen, die Möglichkeiten der Menschen verändern, und diese wiederum zu einer veränderten Wahrnehmung der Umwelt führen?“- „Ja genau!“, stimmt Oberhaupt ihm erregt zu. „Das begann mit der Entdeckung des Feuers und reicht bis zur Entwicklung der Gentechnologie oder des Elektronensynchrotrons! Immer hat sich unser Weltbild an den Möglichkeiten der Technik orientiert!“. Nun ist es an Emil Winterbier, einen Augenblick still zu werden und nachzudenken.
Ingenieure sind Helden
„Für mich sind Ingenieure Helden, die den Menschen die Freiheit geben, all’ das zu erreichen, was sie sich nur vorstellen können“, nimmt Oberhaupt das Gespräch wieder auf. Mit leuchtenden Augen fragt er: „Was glaubst Du, hatte mehr Bedeutung für das Leben der Menschen, die Schriften von Friedrich Nietzsche, oder die Entwicklung der Dampfmaschine? Martin Luther wäre ein unbedeutender Mönch geblieben, wenn es keinen Buchdrucker gegeben hätte!“.
Er steht auf und geht aufgeregt durch den Raum. Bis er sich nach einigen Runden wieder zurück an den Tisch setzt und leise sagt: „Leider sind sich die meisten von ihnen dieser Rolle viel zu wenig bewusst.“. Emil sieht ihn an und nach einer kurzen Pause fragt er: „Und warum bist Du jetzt CEO von einer Firma geworden?“.
Warum bist Du CEO geworden?
Aus Oberhaupt sprudelt es heraus: „Für mich ist Technikentwicklung eine ganzheitliche Aufgabe, die sowohl die Umwandlung von Materie zu Produkten, als auch deren Einfluss auf die Lebenswelt der Menschen beinhaltet. Es reicht nicht aus, sich um technische Details zu kümmern. Man muss auch den sozialen Aspekt von Technik in seine Entwicklungen und Konstruktionen mit einbeziehen. Technik lässt sich nicht vom Leben der Menschen trennen. Arbeit ist der Prozess, in dem beides miteinander zu einer Einheit verschmilzt.”.
Habe ich Dich richtig verstanden?
Emil füllt noch einmal beide Gläser nach. „Wenn ich Dich richtig verstanden habe“, fasst er die Gedanken seines Freundes zusammen, „dann willst du nicht nur intelligente Produkte konstruieren, sondern dich auch um die Entwicklung der Menschen kümmern, die mit diesen Produkten arbeiten. Im Grunde kämpfst du also dafür, dass Ingenieure nicht nur die Verantwortung für ihre Produkte übernehmen, sondern sich auch der gesellschaftlichen Entwicklungen bewusst werden, die durch ihre Produkte ausgelöst werden. Und Du hast die Leitung einer Firma übernommen, damit du deinen Mitarbeitern beibringen kannst, diese Verantwortung zu erkennen und anzunehmen.“ Carl Ernst Oberhaupt nickt und strahlt ihn glücklich an.
Zeitgleich wandert ihr Blick zur Wanduhr, die auf der gegenüberliegenden Küchenwand hängt. Es ist spät geworden, der Zeiger der Uhr rückt in die Nähe der Zwölf. „Mensch Emil, danke Dir!“, sagt Oberhaupt bewegt. „Du hast mir wirklich ein großartiges Geschenk gemacht! Lass uns den Champagner aufmachen, es ist gleich soweit!“. Er reicht seinem Freund die Flasche aus dem Kühlschrank. Und Emil Winterbier gelingt es, den Korken punktgenau um 00.00h an die Decke knallen zu lassen. HAPPY NEW YEAR!
#VomPushzumPeak 010
Bildquelle: Pickit