Vom Push zum Peak 012: Der Start ins Neue Jahr ist für die Firma Niegel & Nagelneu nicht leicht. Als Dr. Oberhaupt das Büro der Buchhalterin betritt ist er erschrocken, sie so krank zu sehen. Doch sie kann es sich nicht leisten, zu fehlen. Gestern hat die Bank wichtige Zahlungen zurückgehen lassen. Wird es der Firma gelingen, die aktuelle Unternehmenskrise zu lösen, denn das Problem liegt offensichtlich viel tiefer?
Dann überstehen wir nicht das nächste Quartal
Die Buchhalterin der Firma Niegel & Nagelneu sitzt an ihrem PC. Auf ihrem Tisch dampft eine große Tasse mit Tee, sodass der ganze Raum nach Minze riecht. Neben ihr liegt eine Packung Taschentücher und eine Schachtel mit Kopfschmerztabletten. Sie hat sich einen Schal um den Hals gewickelt und sieht heute besonders blass aus, als der Chef Dr. Carl-Ernst Oberhaupt den Raum betritt. „Guten Morgen, Doris“, sagt er aufgeräumt, als er den Raum betritt. „Sie hatten mich um einen Termin gebeten?“. Er wendet sich ihr direkt zu und sagt erschrocken: „Mein Gott Doris, Sie sind ja richtig krank! Warum gehen Sie nicht nach Hause und kurieren sich erst einmal aus?“
„Nein, Herr Oberhaupt, das geht nicht“, sagt sie matt. „Ich habe hier den ganzen Tisch voll mit Arbeit, und wenn ich nicht da bin, dann kommen wir nicht über das nächste Quartal.“ Oberhaupt wird still und zieht sich einen Bürostuhl an ihre Seite. „Ist es tatsächlich so schlimm?“
Die Zahlen kenne ich
„Naja, dass es nicht so richtig gut bei uns aussieht, wissen ja alle hier“, sagt Doris. Aber ich mache hier gerade die Abschlussbuchungen für das Jahr 2017 und da wird die Situation immer deutlicher. Uns fehlen einfach ein paar Kunden mit guten Aufträgen. Oder anders gesagt, die Einnahmen sind geringer als die Ausgaben.“ Oberhaupt nickt mit dem Kopf: „Die Zahlen kenne ich“, sagt er, „doch gibt es jetzt noch etwas Neues, das ich wissen muss?“
„Gestern hat die Bank die Abbuchung der Krankenkasse zurückgehen lassen, und Sie wissen ja, die Krankenkassen scherzen nicht, die wollen bei verspäteter Zahlung sofort Mahngebühren und Säumniszuschläge. Die Banken buchen sich die Stornobuchung auch gleich ab. Und so kostet allein dieser blöde Buchungsvorfall mehr als 150,- €. Völlig überflüssige Ausgaben. Mich macht das richtig wütend. Dabei wäre es kein Problem gewesen, wenn die Firma Nörgelfrey bezahlt hätte. Deren Zahlungsziel war bereits am 3. Januar. Aber das Geld ist immer noch nicht da!“
Wir haben schon einige Krisen überstanden
„Ich lasse dem Nörgelfrey noch eine Frist bist nächsten Dienstag, dann rufe ich ihn an“, sagt Oberhaupt. „Wir kommen schon irgendwie durch.“ Und er lächelt Doris aufmunternd zu. „Wir haben schon einige Krisen überstanden, da werden wir das hier auch schaffen.“
„Na klar, Herr Oberhaupt, das sehe ich auch so“, nickt die Buchhalterin. „Ich habe mir auch schon einiges überlegt, wie wir den Engpass überwinden können. Wenn man beispielsweise die Lieferantenrechnungen erst im letzten Moment bezahlt, dann fällt zwar das Skonto weg, aber man kann Kredite über den Monatswechsel ziehen. Bei manchen Lieferanten weiß ich auch, dass die keine Mahngebühren verlangen, da kann man auch mal zwei Wochen später bezahlen. Außerdem habe ich der Frau Prokura aus dem Einkauf gesagt, dass sie bei Materialbestellungen mehr auf Sonderangebote und Teilzahlungsvereinbarungen mit den Lieferanten achten soll. Und dann denke ich, dass wir sowieso viel zu viel Material horten. Manche Dinge müssen doch nicht im Lager liegen. Vielleicht brauchen wir die gar nicht in so großem Stil einzukaufen? Da könnten wir uns mal zusammensetzen, und unsere Lagerbestände durchgehen, was halten Sie davon?“
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Die können ruhig noch bis Februar warten
Dr. Oberhaupt stimmt ihr zu. „Ja, das ist gut!“ nickt er. „Außerdem könnten wir die Aufträge, bei denen die Kunden immer gleich bezahlen, vorziehen – und die Langsamzahler nach hinten stellen.“ Er sieht sich das Buchungsjournal an, das Doris Dauer ihm ausgedruckt hat an und fährt mit dem Bleistift über die Liste. An mehreren Ausgabenpositionen macht er kleine Kreuze. Dann blickt er sie an und erklärt. „Also hier diese fünf Firmen,“ und er tippt mit dem Bleistift auf die Liste, „die können ruhig noch bis Anfang Februar auf ihre Zahlung warten. Das kostet zwar ein paar Mahngebühren, aber das ist nicht so schlimm.“ Er tippt auf die nächste Spalte. „Hier sollten wir noch mal nachgucken, ob wir das alles wirklich brauchen? Wer liest diese Zeitschriften? Und können wir dieses Abos vom Brötchenlieferdienst und der Fussmattenreinigung nicht wieder kündigen? Das spart auch schon ein paar Euros.“
Sie sollten mal zur Bank gehen
„Sie sollten noch mal zur Bank gehen“, schlägt Doris Dauer vor. „Vielleicht bekommen Sie ja doch noch einen Überziehungskredit bis Ende Februar. Bis dahin, sollte es uns wieder besser gehen. Und wir könnten ein paar Zahlungen auch mal wieder mit Schecks machen. Das hat früher auch ganz gut geklappt, wenn die Kassenlage mal eng war.“ Doris stammt noch aus einer Zeit, als es noch kein Onlinebanking gab und Rechnungen nicht vom PC aus beglichen werden konnten. Oberhaupt nickt seiner Buchhalterin zu. „Sie ist wirklich zuverlässig“, denkt er sich. „Andere hätten sich in dieser Situation krank gemeldet und wären eher eine Belastung als eine Stütze für die Firma.“
Darf ich ehrlich sein?
„Herr Oberhaupt“, sagt sie und sieht ihm gerade ins Gesicht. „Darf ich ehrlich sein?“, fragt sie dann. „Na los, was gibt´s“, antwortet der Chef und lädt sie mit einer Handbewegung zum Weitersprechen ein. „Eine Finanzkrise ist kein Schicksal“, sagt Doris Dauer. „Und der Weg von einem florierenden Unternehmen in eine Finanzkrise passiert nicht plötzlich, sondern ist ein schleichender Prozess, der verschiedene Phasen durchläuft. Ich kann den Leidensweg hier an meinen Zahlen ganz genau nachvollziehen.“ Sie muss eine Redepause einlegen und sich die Nase putzen. „Viele denken ja, Buchhaltung wäre total langweilig, weil man hier immer nur Zahlen in den Computer tippt, während woanders kreative Entwicklungen gemacht, oder aufregende Messebesuche absolviert werden.“ Sie schüttelt missbilligend den Kopf. „Aber ich kann hier ganz genau verfolgen, wie es der Firma geht. Eigentlich ist es so, wie bei einem Arzt, der anhand der Temperatur auf einem Fieberthermometer sehen kann, wie es seinem Patienten geht.“
Eine Unternehmenskrise ist ein schleichender Prozess
„Und, Frau Doktor“, lächelt der Chef, „welchen Krankheitsverlauf attestieren Sie? Oder besser noch, welche Therapie empfehlen Sie?“ „Naja, so eine Firmenkrise wird in den meisten Fällen über lange Zeit verdrängt. Da will niemand sehen, dass es kleine Ausfälle oder Symptome gibt. Viele Unternehmen wissen auch gar nicht, dass diese Symptome bereits zu einer Krankheit gehören. Auf diese Weise bleiben wichtige Anzeichen unentdeckt oder werden einfach nicht bearbeitet.“ Oberhaupt hebt die Augenbrauen. Er wundert sich, dass seine Buchhalterin mit einem Mal soviel Verständnis für die Situation der Firma hat und sich als echte Gesprächspartnerin entpuppt. Oder hat er das vorher einfach nicht begriffen, weil er sie zu wenig beachtet hat?
Genius fühlte sich von Fakt ausgebremst
„Erinnern Sie sich noch an den Streit vor fünf Jahren, als der Ingenieur Genius die Firma verlassen hat?“, fragt Doris. „Ich glaube er hatte wirklich gute Ideen, wie man die Firma modernisieren könnte, aber ihn hat keiner ernst genommen. Das war der eigentliche Grund, weshalb er weggegangen ist.“ „Ich dachte er hatte ewig Stress mit Herrn Fakt, und ist deshalb gegangen?“ sagt Oberhaupt. „Naja, das eine schließt das andere ja nicht aus“, sagt Doris. „Fakt hat ihn mit seinen innovativen Ideen nicht ernst genommen, und Genius fühlte sich von ihm ausgebremst. Dadurch ist natürlich Stress zwischen den beiden entstanden. Sie waren ja auch irgendwie völlig verschieden. Aber, wenn ich es so rückblickend betrachte, dann hat unsere Krise schon damals als Stakeholderkrise begonnen.“
„Sie haben recht“, sagt Oberhaupt. „Ich habe diesen Streit damals nicht wirklich ernst genommen“, gesteht Dr. Oberhaupt ein und beißt sich auf die Unterlippe. „Wir hatten keine wirkliche Strategie, und haben einfach das gemacht, was schon immer gut funktioniert hat. Es lief doch auch alles gut. Da brauchten wir keinen Heißsporn, der die Fertigung umkrempeln will.“ Und reumütig fügt er hinzu: „Was uns schon damals fehlte, war eine schlüssige Unternehmensstrategie. Und wie soll man kreatives Potenzial entdecken und fördern, wenn man gar nicht weiß, dass man kreatives Potenzial benötigt?“
Es fehlt eine Unternehmensstrategie
„Und heute wissen Sie es?“ fragt Doris. „Ja, heute weiß ich, dass dem Unternehmen Niegel & Nagelneu eine Unternehmensvision und damit auch die richtige Strategie fehlt. Heute weiß ich, dass es unmöglich ist, eine Strategiekrise zu erkennen, wenn man keine Strategie hat. Das klingt absurd, oder?“
„Sie sprechen von einer Strategiekrise,“ sagt Doris und greift erneut zum Taschentuch. Ich habe die Bilanzen aus den letzten Jahren noch einmal aus dem Archiv geholt. Rückwirkend würde ich sagen, dass unsere Krise schon vor mehr als drei Jahren begann. Wissen Sie noch 2014 war das erste Jahr, in dem unsere Umsätze nicht mehr gestiegen sind. Weil aber genügend Gewinn übrig blieb, hat sich niemand die Mühe gemacht, sich tatsächlich Gedanken über unser Produktangebot zu machen. Auch ich war zu oberflächlich und habe nicht erkannt, dass wir uns damals bereits in einer Absatzkrise befunden haben. Wir hätten uns damals schon um neue Kunden und Produkte kümmern sollen.“
Was ist mit der Wettbewerbsanalyse?
„Außerdem, habe ich es versäumt, den Wettbewerb genau zu analysieren“, gibt Oberhaupt zu. „Ich habe zwar irgendwie gedacht, dass man da mal was machen müsste, um neue Kunden zu akquirieren…“, „…Und dafür haben Sie den Mark Etinger eingestellt.“ Beendet Doris den Gedanken. „Ja, aber wenn ich ehrlich bin, kann er die Aufgabe gar nicht alleine lösen. Er ist wirklich sehr fleißig, wenn es darum geht, unser Unternehmen zu präsentieren. Aber er kann es nicht strategisch neu ausrichten.“ Oberhaupt verstummt. Ihm wird immer mehr bewusst, wie viele Aufgaben in den letzten Jahren liegen geblieben sind, obwohl er soviel gearbeitet hat.
„Die jetzige Phase würde ich als Ertragskrise bezeichnen“, beendet Doris ihren Vortrag. Jetzt ist es so, dass ich rund um die Uhr damit beschäftigt bin, Zahlungseingänge und Zahlungsausgänge miteinander abzuwägen, Rechnungen taktisch zu begleichen, Gläubiger hinzuhalten oder bei säumigen Kunden Druck zu machen. Ehrlich, mir macht die Arbeit zur Zeit überhaupt keinen Spaß!“ Grimmig haut sie mit der flachen Hand auf den Tisch.
Doris, ich brauche Sie doch
Oberhaupt sieht sie besorgt an. „Aber Doris, ich kann mich doch auf sie verlassen, oder? Ich brauche Sie doch.“ Doris Dauer fühlt sich geschmeichelt. Das erste Mal, seit sie bei der Firma Niegel & Nagelneu arbeitet, ist sie nicht für Zahlendreher und fehlende Zahlungseingänge verantwortlich, sondern wird als notwendige Partnerin gesehen. Innerlich durchläuft sie ein warmer Freudenstrahl. „Aber sicher doch, Herr Dr. Oberhaupt“, sagt sie. „Wenn Sie tatsächlich etwas verändern wollen, dann lässt sich diese Krise bestimmt überwinden. Natürlich müssen wir etwas tun, aber dann können wir die drohende Liquiditätskrise bestimmt lösen.“
Kurs auf blauen Ozean
„Eine Insolvenz ist für mich völlig ausgeschlossen“, sagt Dr. Oberhaupt. „Ich möchte alles tun, dass wir den Tanker noch mal richtig flottmachen und wieder Kurs auf blaue Ozeane nehmen.“ Er steht auf und schiebt den Stuhl zurück an den Nachbartisch. „Die erste Aufgabe besteht darin, dass wir nicht nur an den Symptomen der aktuellen Krise arbeiten, sondern die Ursache bekämpfen.“ Er geht durch den Raum und bleibt vor Doris Schreibtisch stehen. „Sie haben mir heute morgen sehr geholfen, meine Gedanken zu sortieren. Vielen Dank für dieses gute Gespräch.“ Er lächelt Doris an und verlässt den Raum.
Doris nimmt einen kräftigen Schluck Tee aus ihrer Tasse und lässt sich das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. „Ich glaube er meint, wir sollten mehr AM Unternehmen arbeiten, als IM Unternehmen. “ Sie freut sich, dass das Gespräch so positiv verlaufen ist, denn vorher war sie sich nicht sicher, ob sie mit dem Chef jemals so offen reden könnte. Entschlossen wendet sie sich den nächsten Eingangsrechnungen aus dem Poststapel zu.